Iwan Franko und die Juden zu einer Verleumdung in der Profil

Iwan Franko und die Juden zu einer Verleumdung in der Profil
04.11.2013

(переклав німецькою мовою Ю.Прохасько)

Unlängst erschien in der Wiener Zeitschrift Profil ein Artikel von Frau Christa Zöchling, einer ziemlich bekannten Journalistin mit gründlicher Ausbildung, betitelt „Juden, Blutsauger“[1]. Dazu hat sich die Autorin, wie wir verstehen, von Emil Langermann inspirieren lassen, einem österreichischen Staatsbürger, der schon 1970 aus Odessa auswanderte. Beeindruckt von ihm, bemüht sich die Autorin dieses kurzen Beitrags zu beweisen, dass Iwan Franko, der berühmte ukrainische Schriftsteller und Denker, eine der geistigen Autoritäten dieser Nation, ein Antisemit war, der „in seinen politischen Schriften gegen das "Judenpack“ agitierte, das "unehrenhafte, eindringliche jüdische Element, das "alles aussaugt“ und "unser Blut trinkt“, so der Artikel.


Diese Publikation löste eine Welle wildester Diffamierung aus, die so weit ging, dass sich Herr Langermann an das Wiener Magistrat mit der Bitte wandte, alle Zeichen der Verehrung von Iwan Franko in der österreichischen Hauptstadt zu entfernen, unter anderem das Denkmal im 1. Wiener Stadtbezirk sowie die Erinnerungstafel an der Universität. Deshalb fühlen wir uns verpflichtet, uns an die breitere Öffentlichkeit, unter anderem auch an die österreichischen Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Offenen Brief zu wenden, um unsere Überlegungen zur vorhandenen Situation zu äußern.


Auf welche Grundlagen, welche Quellen, welche Erfahrungen letzten Endes stützt sich Frau Zöchling in ihren Behauptungen? Etwa: Er war zeitlebens radikaler Nationalist und glühender Antisemit. In seinen Gedichten stellte er dem ukrainischen Bauern den "habgierigen“ Händlerjuden gegenüber oder Franko konnte nicht ahnen, was kommen würde, doch die Vernichtung des Judentums in Galizien wünschte er heißen Herzens.“  Äußerst interessant wäre es, ferner, zu erfahren, welche Texte Frankos Herr Langermann ins Deutsche übersetzt und aus welchen Werken er die „Zitate-Sammlungen zusammengestellt“ hat? Denn die deutschsprachigen Werke Frankos (nicht übersetzten sondern im Original schon auf Deutsch verfassten und in den zeitgenössischen deutschsprachigen Zeitschriften publizierten) sind vor Jahrzehnten bereits als eigenes Buch erschienen. Und sie enthalten keine einzige antisemitische Passage.


Die Worte, die Frau Zöchling frei nach Herrn Langermann anführt, gibt es bei Franko tatsächlich. So sehen sie in der Profil-Publikation aus: «Juden, Blutsauger, Betrüger […] Es werden noch Zeiten kommen, dass aus kleinsten Funken ein Brand entfacht und Juden zur Rechenschaft gezogen werden». Und weiter: «Unsere Juden davon gibt es Unmengen […] Der durch Jahrhunderte angestaute Hass kann mit solch einer Flamme ausbrechen, dass die Juden-Förderer keine Zeit haben werden, ihnen zu helfen».


 Und jetzt die gleichen Worte bei Franko selbst: „Man sagt: Juden seien Blutegel, Schwindler. [...] das Volk hält uns für seine größten Blutegel, und sollte etwas dazwischenkommen, ein kleinster Funke, und es wird ein Brand entfacht, und die Juden – wir alle, schuldigen wie unschuldigen – werden zur Rechenschaft gezogen für all die Sünden, die nicht selten weder sie begangen haben, noch ihre Eltern, noch Großeltern“. Und weiter: „Und wir vergessen, dass im ruthenischen (d.h. ukrainischen – die Verfasser) Lande heute die größte Hälfte des jüdischen Stamms lebt, und dass der jahrhundertelang angestaute Hass mit so einer Flamme ausbrechen, solche Formen annehmen kann, dass unsere Protekroren, Polen und Russen, uns nichts mehr helfen können“ (I. Franko, Werke in 50 Bdd., Bd.20, S.386, 389, 393).


Erstens wird aus dieser Referenz alleine schon unschwer ersichtlich, dass die sogenannten in der Profil angeführten „Zitate“ aus Franko ungenau sind: sie wurden willkürlich ausgewählt und aus dem Kontext herausgerissen. Zweitens entstammen sie nicht einer „politischen Schrift“, wie es der Artikel will, sondern einem Roman, wo diese Worte nicht die Meinung des Autors zum Ausdruck bringen, sondern sind einer handelnden Person in den Mund gelegt, die darüber hinaus die damaligen nationalen Vorurteile kolportiert. Und, das Wichtigste, drittens, gehören diese Worte dem Juden Wagman, einem der Protagonisten des Romans „Die Kreuzpfade“.
 
Gemäß der Romanhandlung ist er, nachdem er seinen einzigen Sohn durch die polnischen Adligen verloren hatte, deren verbissener Feind geworden. Die angeführten Worte richtet er an einen anderen Juden, den Bürgermeister Resselberg, der sich für einen polnischen Patrioten hält. Der von Franko mit großer Sympathie und Humanität geschilderte Wagman vertritt vor seinem Gegenüber sein eigenes Verständnis der Zusammenarbeit mit den galizischen Ukrainern als Vertreter der unterdrückten Nation. Das Wesen dieses Verständnisses besteht nicht im gegenseitigen Bekämpfen, sondern in der Suche nach den Wegen zur Einigung dieser beiden Völker. Franko legt seinem Helden Worte in den Mund, die von seiner Anerkennung des Rechts für die galizischen Juden auf ihre eigene nationale Einmaligkeit und Würde zeugen: „Kein Jude kann und muss ein polnischer oder ruthenischer (d.h. ukrainischer) Patriot sein.  Und braucht das nicht. Er soll Jude sein, das genügt. Denn man kann sehr wohl ein Jude sein und das Land, wo wir geboren sind, lieben, und nützlich sein oder zumindest nicht schädlich dem Volk, das, obwohl nicht unser eigenes ist, dennoch eng mit allen Erinnerungen unseres Lebens verbunden“. (ebenda, S. 392).
 
Ist es denn zulässig, wenn man den ganzen Kontext berücksichtigt, Franko Antisemitismus vorzuwerfen und ihn zu bezichtigen, „er habe heißen Herzens die Vernichtung der Juden gewünscht“? Zumal in „Die Kreuzpfade“ die Worte der ukrainischen Bauern „Sie saugen unser Blut und machen sich noch über uns lustig“ sich an die „Herren“ (Grundbesitzer), „Popen“ (ukrainische Priester), „Beamten“, „Rechtsanwälte“  usw. richten, ganz unabhängig von der Nationalität (ebenda S. 325, 326). Der Zugang des Schriftstellers Franko zu den im Roman geschilderten gesellschaftlichen Konflikten ist vor allem ein sozialer. Darüber hinaus beobachtet der Autor unter den Juden, wie auch bei anderen Nationalitäten, eine Gesellschaftsschichtung, indem er (wiederum durch seine Romanfiguren) zwischen „lauter Armseligen, Kleinhändlern, Schneidern, Schustern und anderen Kleinhandwerkern“ einerseits, die am meisten während der „ersten antijüdischen Ausschreitungen“ in der russischen Ukraine zu leiden hatten, und den „reichsten Juden, größten Kapitalisten und Industriellen“, welche „nicht zu Schaden gekommen sind, weil diese in Kiew, in Warschau und St.-Petersburg wie hinter Gottes Türen sitzen“ (ebenda, S. 386).


In voller Verantwortung, indem wir mit dem Erforschen und Herausgeben Frankos Werk direkt zu tun haben, erklären wir: die Hauptidee seines Schaffens war Menschenliebe, vor allem die Liebe zu Benachteiligten und Erniedrigten, ganz unabhängig von ihrer sozialen oder nationalen Zugehörigkeit. Ukrainer, Juden, Polen, Deutsche, Österreicher, Tschechen, Russen, Roma, Ungarn, Italiener, ja sogar Chinesen sind handelnde Personen seiner Werke. In seiner warmherzigen Erinnerungsskizze „Meine bekannten Juden“ gab Iwan Franko zu: „Ich war immer bemüht, im Juden, wie auch in dem von mir geschilderten Ukrainer, Polen, Zigeuner den Menschen zu sehen und zu schildern, und nur den Menschen“. Als Persönlichkeit mit gesteigertem Gerechtigkeitsempfinden, einem unbändigem Verlangen, die Welt wenigstens einen Deut besser zu machen, schwieg der Schriftsteller nicht, sondern entlarvte die Verirrungen Einzelner und der Gesellschaft insgesamt, um die künftigen Generationen der Europäer vor restloser moralischer Degradation zu bewahren.


Indem Iwan Franko oft seine Figuren und Situationen unmittelbar im Leben selbst vorfand, konnte er angesichts der Nachteile und Ungerechtigkeiten gegenüber den einfachen Menschen seitens des anderen, auch Juden, nicht gleichgültig bleiben. Kann etwa Hermann Goldkremer gerechtfertigt werden, der den Tod des jungen Erdölarbeiters Iwan Piwtorak verschuldet? („Boa constrictor“)? Oder der Schankwirt Moschko, der seinen Zöglingen Gift beimischt („Wie Jura Šykmanjuk über den Čeremoš ging“)? Oder Mendel, der erst den Analphabeten Jac’ Zelepuha betrügt und dann dessen Haus niederbrennen läßt, um sein Verbrechen zu verstecken? Offensichtlich nicht. Doch Franko, der sein Leben lang „einen Funken des Göttlichen in der Wirklichkeit“, „das Göttliche im menschlichen Geiste“ zu finden suchte (und auch fand!), gab die Chance zu Katharsis und Reue selbst den schieren Verbrechern (von ihrer Nationalität ganz abgesehen). Denn was sonst zwingt Hermann Goldkremer sich in Extremsituation an die Worte seiner Mutter zu erinnern, welche sie ihm als ihren letzten Willen mitgab: „Hersch, du sollst redlich leben!“, und in einem Anfall von Mitleid der Witwe von Piwtorak durch das Fenster Geldbörse zuzuwerfen, um wenigstens so seine Sünde wiedergutzumachen? Und Moschko, die Katharsis zu erleben und auf seine verbrecherischen Vorsätze zu verzichten? Solcher Beispiele könnte man jede Menge anführen.


Mehr noch: auch unter den guten, edlen, mit Mitgefühl geschilderten Helden Frankos gibt es viele Vertreter des jüdischen Volkes. Der bereits erwähnte Wagman aus „Die Kreuzpfade“, der nach Verständigung mit ruthenischen Bauern sucht und ihnen hilft; oder Josko Stern („Zum Licht!“), dem es gelang, die Freiheit erst um den Preis des eigenen Lebens zu erlangen; oder Surka aus dem gleichnamigen Werk, deren Schicksal er den Leser miterleben läßt. Und schloß Franko mit seinem lyrischen Zyklus „Jüdische Melodien“ (aus dem Gedichtband „Aus Höhen und Niederungen“) nicht etwa an die Reflexion über Geschichte und Gegenwart des jüdischen Volkes an? Und war es jemand anderer als Moses, in dem er den geistigen Anführer der Nation sieht?


Bevor Herr Langermann seine durch und durch einseitigen, unbegründeten und ungeprüften Behauptungen in die Welt setzte, sollte er wenigstens die wichtigsten Werke Frankos eingehend gelesen haben. Daraus würde er mit Sicherheit schließen, dass Iwan Franko, während er Patriot seiner Heimat blieb und enorme Mühe zum Schaffen eines ukrainischen Staates und der ukrainischen Nation leistete, stets auch Anhänger des jüdischen Staates war. Laut Augenzeugen traf sich Franko persönlich mit Theodor Herzl und schrieb hernach einen Beitrag mit dem Titel „Der Judenstaat“, in dem er diese Idee unterstützte. Schließlich ist Franko Autor des vielsagenden Aufsatzes „Semitismus und Antisemitismus in Galizien“, eines Werks, das von der Idee der nationalen Toleranz und gegenseitigen Achtung durchdrungen ist.


Es lohnt sich an dieser Stelle, auch an die Frankos Rezension auf «Piękna Żydówka, szkic społeczno-psychologiczny» (Schöne Jüdin, eine gesellschaftlich-psychologische Skizze) von Wilhelm Feldman zu erinnern, in der er den polnischen Autor dieser Erzählung dafür kritisiert, dass dieser „die nationalistische Strömung“ im Leben des galizischen Judentums lediglich erwähnt aber nicht geschildert hat. Iwan Franko war zweifellos ein Befürworter der Entwicklung eines eigenen jüdischen Bewusstseins in Polen und im ukrainischen Galizien.
Die Vorwürfe, Franko sei ein Antisemit gewesen, sind demnach gänzlich unbegründet und aus der Luft gegriffen. Schade, dass der moderne Informationsraum Platz solchen Sensationssüchtigen gewährt, die, direkt oder indirekt, nationale Würde der Anderen verletzen, um eigene unbändige Ambitionen zu stillen, tendenziös und verantwortungslos einen Schatten auf den guten Namen eines der bedeutendsten, für viele Lesergenerationen wichtigen ukrainischen Dichter werfen, sein Schaffen verfälschen, indem sie mit den in seinen Werken geschilderten, wirklich äußerst komplexen nationalen Beziehungen im Galizien des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts spekulieren.


Wir möchten sehr hoffen, dass die ausgewogenen Entscheidungen des Wiener Magistrats und der akademischen Gemeinschaft der Universität Wien sich aus objektiver Klärung der Tatsachen und keinesfalls aus subjektiven, unsoliden und entstellten Behauptungen ergeben werden.
 
Mykola Žulyns’kyj, Akademiemitglied Ukrainische Nationale Akademie der Wissenschaften, Leiter des T.-Šewčenko-Instituts für Literaturforschung der UNAW
Dmytro Pawlyčko, Dichter, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Ukraine, Autor der Lyriksammlung „Jüdische Melodien“, die in Israel in hebräischen Übersetzt erschien
Iwan Dzjuba, Akademiemitglieg UNAW
Jewhen Nachlik, Prof. Dr., Leiter des Iwan-Franko-Instituts der UNAW
Mykola Lehkyj, Dr. phil., Leiter der Abteilung Franko-Forschung am Iwan-Franko-Insititut der UNAW
 
4. November 2013