Unlängst erschien in der Wiener Zeitschrift Profil ein Artikel von Frau Christa Zöchling, einer ziemlich bekannten Journalistin mit gründlicher Ausbildung, betitelt „Juden, Blutsauger“[1]. Dazu hat sich die Autorin, wie wir verstehen, von Emil Langermann inspirieren lassen, einem österreichischen Staatsbürger, der schon 1970 aus Odessa auswanderte. Beeindruckt von ihm, bemüht sich die Autorin dieses kurzen Beitrags zu beweisen, dass Iwan Franko, der berühmte ukrainische Schriftsteller und Denker, eine der geistigen Autoritäten dieser Nation, ein Antisemit war, der „in seinen politischen Schriften gegen das "Judenpack“ agitierte, das "unehrenhafte, eindringliche jüdische Element, das "alles aussaugt“ und "unser Blut trinkt“, so der Artikel.
Diese Publikation löste eine Welle wildester Diffamierung
aus, die so weit ging, dass sich Herr Langermann an das Wiener Magistrat mit
der Bitte wandte, alle Zeichen der Verehrung von Iwan Franko in der österreichischen
Hauptstadt zu entfernen, unter anderem das Denkmal im 1. Wiener Stadtbezirk
sowie die Erinnerungstafel an der Universität. Deshalb fühlen wir uns
verpflichtet, uns an die breitere Öffentlichkeit, unter anderem auch an die
österreichischen Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Offenen Brief zu wenden,
um unsere Überlegungen zur vorhandenen Situation zu äußern.
Auf welche Grundlagen,
welche Quellen, welche Erfahrungen letzten Endes stützt sich Frau Zöchling in
ihren Behauptungen? Etwa: „Er war zeitlebens radikaler Nationalist
und glühender Antisemit. In
seinen Gedichten stellte er dem ukrainischen Bauern den "habgierigen“
Händlerjuden gegenüber“ oder „Franko konnte nicht ahnen, was kommen würde, doch die Vernichtung des
Judentums in Galizien wünschte er heißen Herzens.“ Äußerst
interessant wäre es, ferner, zu erfahren, welche Texte Frankos Herr Langermann
ins Deutsche übersetzt und aus welchen Werken er die „Zitate-Sammlungen
zusammengestellt“ hat? Denn die deutschsprachigen Werke Frankos (nicht
übersetzten sondern im Original schon auf Deutsch verfassten und in den zeitgenössischen
deutschsprachigen Zeitschriften publizierten) sind vor Jahrzehnten bereits als eigenes
Buch erschienen. Und sie enthalten keine einzige antisemitische Passage.
Die Worte, die Frau Zöchling frei nach Herrn
Langermann anführt, gibt es bei Franko tatsächlich. So sehen sie in der
Profil-Publikation aus: «Juden, Blutsauger, Betrüger […] Es werden
noch Zeiten kommen, dass aus kleinsten Funken ein Brand entfacht und Juden zur
Rechenschaft gezogen werden». Und weiter: «Unsere Juden – davon gibt es Unmengen […] Der durch Jahrhunderte angestaute Hass kann mit solch einer Flamme
ausbrechen, dass die Juden-Förderer keine Zeit haben werden, ihnen zu helfen».
Und jetzt die gleichen Worte bei Franko selbst: „Man
sagt: Juden seien Blutegel, Schwindler. [...] das Volk hält
uns für seine größten Blutegel, und sollte etwas dazwischenkommen, ein
kleinster Funke, und es wird ein Brand entfacht, und die Juden – wir alle,
schuldigen wie unschuldigen – werden zur Rechenschaft gezogen für all die
Sünden, die nicht selten weder sie begangen haben, noch ihre Eltern, noch
Großeltern“. Und weiter: „Und wir vergessen, dass im ruthenischen (d.h.
ukrainischen – die Verfasser) Lande heute die größte Hälfte des jüdischen
Stamms lebt, und dass der jahrhundertelang angestaute Hass mit so einer Flamme
ausbrechen, solche Formen annehmen kann, dass unsere Protekroren, Polen und
Russen, uns nichts mehr helfen können“ (I. Franko, Werke in 50 Bdd., Bd.20,
S.386, 389, 393).
Erstens wird aus dieser Referenz alleine schon unschwer
ersichtlich, dass die sogenannten in der Profil
angeführten „Zitate“ aus Franko ungenau sind: sie wurden willkürlich ausgewählt
und aus dem Kontext herausgerissen. Zweitens entstammen sie nicht einer
„politischen Schrift“, wie es der Artikel will, sondern einem Roman, wo diese
Worte nicht die Meinung des Autors zum Ausdruck bringen, sondern sind einer
handelnden Person in den Mund gelegt, die darüber hinaus die damaligen
nationalen Vorurteile kolportiert. Und, das Wichtigste, drittens, gehören diese
Worte dem Juden Wagman, einem der Protagonisten des Romans „Die Kreuzpfade“.
Gemäß der Romanhandlung ist er, nachdem er seinen
einzigen Sohn durch die polnischen Adligen verloren hatte, deren verbissener Feind
geworden. Die angeführten Worte richtet er an einen anderen Juden, den
Bürgermeister Resselberg, der sich für einen polnischen Patrioten hält. Der von
Franko mit großer Sympathie und Humanität geschilderte Wagman vertritt vor
seinem Gegenüber sein eigenes Verständnis der Zusammenarbeit mit den
galizischen Ukrainern als Vertreter der unterdrückten Nation. Das Wesen dieses
Verständnisses besteht nicht im gegenseitigen Bekämpfen, sondern in der Suche
nach den Wegen zur Einigung dieser beiden Völker. Franko legt seinem Helden
Worte in den Mund, die von seiner Anerkennung des Rechts für die galizischen
Juden auf ihre eigene nationale Einmaligkeit und Würde zeugen: „Kein Jude kann
und muss ein polnischer oder ruthenischer (d.h. ukrainischer) Patriot
sein. Und braucht das nicht. Er soll
Jude sein, das genügt. Denn man kann sehr wohl ein Jude sein und das Land, wo
wir geboren sind, lieben, und nützlich sein oder zumindest nicht schädlich dem
Volk, das, obwohl nicht unser eigenes ist, dennoch eng mit allen Erinnerungen
unseres Lebens verbunden“. (ebenda, S. 392).
Ist es denn zulässig, wenn
man den ganzen Kontext berücksichtigt, Franko Antisemitismus vorzuwerfen und
ihn zu bezichtigen, „er habe heißen Herzens die Vernichtung der Juden gewünscht“?
Zumal in „Die Kreuzpfade“ die Worte der ukrainischen Bauern „Sie saugen unser
Blut und machen sich noch über uns lustig“ sich an die „Herren“
(Grundbesitzer), „Popen“ (ukrainische Priester), „Beamten“,
„Rechtsanwälte“ usw. richten, ganz
unabhängig von der Nationalität (ebenda S. 325, 326). Der Zugang des
Schriftstellers Franko zu den im Roman geschilderten gesellschaftlichen
Konflikten ist vor allem ein sozialer. Darüber hinaus beobachtet der Autor
unter den Juden, wie auch bei anderen Nationalitäten, eine Gesellschaftsschichtung,
indem er (wiederum durch seine Romanfiguren) zwischen „lauter Armseligen,
Kleinhändlern, Schneidern, Schustern und anderen Kleinhandwerkern“ einerseits,
die am meisten während der „ersten antijüdischen Ausschreitungen“ in der
russischen Ukraine zu leiden hatten, und den „reichsten Juden, größten
Kapitalisten und Industriellen“, welche „nicht zu Schaden gekommen sind, weil
diese in Kiew, in Warschau und St.-Petersburg wie hinter Gottes Türen sitzen“
(ebenda, S. 386).
In voller Verantwortung,
indem wir mit dem Erforschen und Herausgeben Frankos Werk direkt zu tun haben,
erklären wir: die Hauptidee seines Schaffens war Menschenliebe, vor allem die
Liebe zu Benachteiligten und Erniedrigten, ganz unabhängig von ihrer sozialen
oder nationalen Zugehörigkeit. Ukrainer, Juden, Polen, Deutsche, Österreicher,
Tschechen, Russen, Roma, Ungarn, Italiener, ja sogar Chinesen sind handelnde
Personen seiner Werke. In seiner warmherzigen Erinnerungsskizze „Meine
bekannten Juden“ gab Iwan Franko zu: „Ich war immer bemüht, im Juden, wie auch
in dem von mir geschilderten Ukrainer, Polen, Zigeuner den Menschen zu sehen
und zu schildern, und nur den Menschen“. Als Persönlichkeit mit gesteigertem
Gerechtigkeitsempfinden, einem unbändigem Verlangen, die Welt wenigstens einen Deut
besser zu machen, schwieg der Schriftsteller nicht, sondern entlarvte die
Verirrungen Einzelner und der Gesellschaft insgesamt, um die künftigen
Generationen der Europäer vor restloser moralischer Degradation zu bewahren.
Indem Iwan Franko oft seine
Figuren und Situationen unmittelbar im Leben selbst vorfand, konnte er angesichts
der Nachteile und Ungerechtigkeiten gegenüber den einfachen Menschen seitens
des anderen, auch Juden, nicht gleichgültig bleiben. Kann etwa Hermann
Goldkremer gerechtfertigt werden, der den Tod des jungen Erdölarbeiters Iwan
Piwtorak verschuldet? („Boa constrictor“)? Oder der Schankwirt Moschko, der
seinen Zöglingen Gift beimischt („Wie Jura Šykmanjuk über den Čeremoš ging“)?
Oder Mendel, der erst den Analphabeten Jac’ Zelepuha betrügt und dann dessen
Haus niederbrennen läßt, um sein Verbrechen zu verstecken? Offensichtlich
nicht. Doch Franko, der sein Leben lang „einen Funken des Göttlichen in der
Wirklichkeit“, „das Göttliche im menschlichen Geiste“ zu finden suchte (und
auch fand!), gab die Chance zu Katharsis und Reue selbst den schieren
Verbrechern (von ihrer Nationalität ganz abgesehen). Denn was sonst zwingt
Hermann Goldkremer sich in Extremsituation an die Worte seiner Mutter zu
erinnern, welche sie ihm als ihren letzten Willen mitgab: „Hersch, du sollst
redlich leben!“, und in einem Anfall von Mitleid der Witwe von Piwtorak durch
das Fenster Geldbörse zuzuwerfen, um wenigstens so seine Sünde wiedergutzumachen?
Und Moschko, die Katharsis zu erleben und auf seine verbrecherischen Vorsätze
zu verzichten? Solcher Beispiele könnte man jede Menge anführen.
Mehr noch: auch unter den
guten, edlen, mit Mitgefühl geschilderten Helden Frankos gibt es viele
Vertreter des jüdischen Volkes. Der bereits erwähnte Wagman aus „Die
Kreuzpfade“, der nach Verständigung mit ruthenischen Bauern sucht und ihnen
hilft; oder Josko Stern („Zum Licht!“), dem es gelang, die Freiheit erst um den
Preis des eigenen Lebens zu erlangen; oder Surka aus dem gleichnamigen Werk,
deren Schicksal er den Leser miterleben läßt. Und schloß Franko mit seinem
lyrischen Zyklus „Jüdische Melodien“ (aus dem Gedichtband „Aus Höhen und
Niederungen“) nicht etwa an die Reflexion über Geschichte und Gegenwart des
jüdischen Volkes an? Und war es jemand anderer als Moses, in dem er den
geistigen Anführer der Nation sieht?
Bevor Herr Langermann seine
durch und durch einseitigen, unbegründeten und ungeprüften Behauptungen in die
Welt setzte, sollte er wenigstens die wichtigsten Werke Frankos eingehend gelesen
haben. Daraus würde er mit Sicherheit schließen, dass Iwan Franko, während er
Patriot seiner Heimat blieb und enorme Mühe zum Schaffen eines ukrainischen
Staates und der ukrainischen Nation leistete, stets auch Anhänger des jüdischen
Staates war. Laut Augenzeugen traf sich Franko persönlich mit Theodor Herzl und
schrieb hernach einen Beitrag mit dem Titel „Der Judenstaat“, in dem er diese
Idee unterstützte. Schließlich ist Franko Autor des vielsagenden Aufsatzes
„Semitismus und Antisemitismus in Galizien“, eines Werks, das von der Idee der
nationalen Toleranz und gegenseitigen Achtung durchdrungen ist.
Es lohnt sich an dieser
Stelle, auch an die Frankos Rezension auf «Piękna Żydówka, szkic społeczno-psychologiczny» (Schöne Jüdin, eine
gesellschaftlich-psychologische Skizze) von Wilhelm Feldman zu erinnern, in
der er den polnischen Autor dieser Erzählung dafür kritisiert, dass dieser „die
nationalistische Strömung“ im Leben des galizischen Judentums lediglich erwähnt
aber nicht geschildert hat. Iwan Franko war zweifellos ein Befürworter der
Entwicklung eines eigenen jüdischen Bewusstseins in Polen und im ukrainischen
Galizien.
Die Vorwürfe, Franko sei ein
Antisemit gewesen, sind demnach gänzlich unbegründet und aus der Luft
gegriffen. Schade, dass der moderne Informationsraum Platz solchen
Sensationssüchtigen gewährt, die, direkt oder indirekt, nationale Würde der
Anderen verletzen, um eigene unbändige Ambitionen zu stillen, tendenziös und
verantwortungslos einen Schatten auf den guten Namen eines der bedeutendsten,
für viele Lesergenerationen wichtigen ukrainischen Dichter werfen, sein
Schaffen verfälschen, indem sie mit den in seinen Werken geschilderten,
wirklich äußerst komplexen nationalen Beziehungen im Galizien des 19. – Anfang
des 20. Jahrhunderts spekulieren.
Wir möchten sehr hoffen,
dass die ausgewogenen Entscheidungen des Wiener Magistrats und der akademischen
Gemeinschaft der Universität Wien sich aus objektiver Klärung der Tatsachen und
keinesfalls aus subjektiven, unsoliden und entstellten Behauptungen ergeben
werden.
Mykola Žulyns’kyj,
Akademiemitglied Ukrainische Nationale Akademie der Wissenschaften, Leiter des
T.-Šewčenko-Instituts für Literaturforschung der UNAW
Dmytro Pawlyčko,
Dichter, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Ukraine, Autor
der Lyriksammlung „Jüdische Melodien“, die in Israel in hebräischen Übersetzt
erschien
Iwan Dzjuba,
Akademiemitglieg UNAW
Jewhen Nachlik,
Prof. Dr., Leiter des Iwan-Franko-Instituts der UNAW
Mykola Lehkyj,
Dr. phil., Leiter der Abteilung Franko-Forschung am Iwan-Franko-Insititut der
UNAW
4.
November 2013
[1] Siehe die Homepage
der Zeitschrift: http://www.profil.at/articles/1343/560/368421/iwan-franko-denkmalstreit-nationalhelden.